Kavolux
Der Kavolux glotzt mich an. Vierzig Zentimeter von meiner Nase entfernt hält er mir sein konkaves Glasgesicht entgegen und beobachtet jede meiner Regungen mit seinem hell strahlenden Zyklopenauge. Wie ein Wesen aus einem Science Fiction Comic hängt er an einem weißen kantigen Tentakel von der Zimmerdecke.
Stumm.
Lauernd.
Wenn man ihn reizt, wird er wahrscheinlich seine weiße Tarnung ablegen und aggressiv zuckend und Abscheu verursachend wie eine gehörnte Klapperschlage in einem dunkelgrau schimmernden Panzer aus leise klickenden Titan-Schuppen zustoßen, mitten in mein ungeschütztes Gesicht. Das Zyklopenauge wird sich blitzschnell bis zu meinem linken Jochbein durchbrennen, bevor ich überhaupt irgendeine Gefahr gespürt hätte. Der Kavolux würde mich packen und hin- und her schütteln wie eine Gliederpuppe. In drei bis vier Sekunden würde er mich erledigt haben und ich hätte nicht die Spur einer Chance – trotz meiner auf einsneunundachtzig verteilten neunzig Kilo.
Das Horrorszenario in meinem Kopf lässt mich schmunzeln. Entspannt und träge liege ich im Behandlungsstuhl und sehe aus dem Fenster. Draußen ist es trüb, kalt und nass. Der Niesel ist von der Sorte, die von überall her zu kommen scheint, sogar von unten, und kann einem derart mit klammen Fingern unter dem Schal hindurch in den Nacken greifen, dass einen fröstelt. Scheiß-Jahreszeit. Ich liebe den Frühling, die Zeit, wenn das erste Grün im Wald zart in der Morgensonne schimmert und man Insekten und kleine Partikel im Gegenlicht tanzen sieht. Alles beginnt von neuem zu leben und sich den Winterschlaf aus den Augen zu reiben. Der Wald duftet wieder nach Wald und nicht nach nassem Morast, die Singvögel begrüßen den Morgen und die Menschen haben ihr Lächeln wieder gefunden. Und die Rotznasen haben erst mal Pause.
Der Waldduft in meiner Erinnerung wird gleich wieder vom Geruch des Desinfektionsmittels übertüncht, das in allen Zahnarztpraxen der westlichen Welt zu Hause zu sein scheint. Ich bilde mir ein, dass ich es noch Stunden später auf der Zunge schmecke.
Mit einem schnellen Blinzeln überliste ich den Kavolux und drehe meinen Kopf etwas zur Seite ohne dass er es bemerkt. Das kleine schwenkbare Tablett kommt in mein Blickfeld, mit diversen Sonden, Pinzetten, filigranen Füllwerkzeugen und zwei Mundspiegeln. Rechts unten an der Seite das Pult mit den verschiedenen Bohrern und speziellen Instrumenten.
„Bitte weit aufmachen.“ Die weibliche Stimme hinter mir klingt freundlich und angenehm. Zwei gummibehandschuhte Hände senken sich in Richtung meines offen stehenden Mundes. Ein wenig komme ich mir vor wie einer der tumb starrenden, völlig betrunkenen Bauern auf einem der Dorfszenen schildernden Gemälde von Breughel dem Älteren. „Maulaffen feil halten.“ Wie eine Leuchtreklame steht dieser Ausdruck im inneren meines Schädels.
„Na, den haben Sie aber gründlich gekillt. Wie ist denn das passiert? Hatten Sie Probleme in der Zwischenzeit?“ Geschickt hantiert die Zahnärztin mit Sonde und Spiegel. Einen Augenblick lang möchte ich mich an ihre Schulter anlehnen und ein Nickerchen machen.
Ich liebe das. Mindestens acht Finger und mehrere Instrumente, die meinen offenen Mund penetrieren und mich an deutlicher Aussprache hindern, und ich soll präzise Informationen über das Malheur mit einem meiner linken oberen Prämolaren abgeben, den ich einige Tage zuvor mit einem kräftigen Biss in einen Vollkorn-Keks gerichtet hatte. Der stetig schlürfende Sauger in meinem rechten Mundwinkel übertönt meine Antwort, die ich zu geben versuche, ohne dabei meine Kinnlade auch nur einen Millimeter zu bewegen. Immerhin bringe ich ein paar kehlige Laute zustande, die überwiegend Vokale in der Grundstruktur aufweisen und wie „Haaah-Hohee-Ahehohen-Hiehaahen-heihee-hoheehe“ klingen.
Die Zahnärztin lächelt und erklärt mir die weitere Behandlung. Schlank, blond und sehr kühl steht sie in ihrem blauen OP-Kittel neben mir und schaut zu mir herab. Der Kavolux gehorcht ihr ebenso aufs Wort wie der kleinen türkischen Helferin, die etwas schüchtern zu meiner Linken steht und später für Handreichungen und die Saugerführung zuständig sein wird. Von ihnen lässt er sich ohne Schwierigkeiten anfassen und bewegen. Würde ich das versuchen, verlöre ich sicherlich ein paar Finger, wenn nicht gleich den ganzen Arm.
„Zuerst schleife ich die Reste des Zahns herunter. Dafür werde ich ungefähr eineinhalb Stunden brauchen. Mit etwas Glück bekommen wir eine Aufbaufüllung hin, wo wir dann später die Krone verankern. Ich setze gleich eine örtliche Betäubung. Vorher werden wir aber die Schleimhaut mit einem Mittelchen beträufeln, dann spüren Sie den Einstich überhaupt nicht.“ Ihre dunkelblauen Augen blicken ruhig, während der Kavolux hämisch auf mich herunter grinst.
Die Injektionsnadel nähert sich meinem Gesicht. „Sind sie außer Gefahr?“ tönt es augenblicklich in meinem Kopf. Laurence Olivier als sadistischer ehemaliger KZ-Zahnarzt Dr. Szell in „Der Marathon-Mann“. Aber die Zahnärztin sagt: „Achtung. Sie werden gleich so etwas wie ein Druckgefühl spüren. Wenn etwas ist, melden Sie sich sofort, ja?“ Ich nicke. Dann spüre ich die Nadel in mein Zahnfleisch dringen. Es tut nicht weh, fühlt sich aber auch nicht sehr angenehm an. Es ist, als kratze die Spitze der Nadel vorsichtig an meinem Kieferknochen. Langsam spritzt die Zahnärztin das Anästhetikum in meinen Oberkiefer, zieht die Spritze heraus und setzt an anderer Stelle noch einmal an. Und dann noch ein drittes Mal. Neugierig glotzt mich der Kavolux an. Ich schließe die Augen.
Dann bin ich allein, blättere ein wenig in einer Illustrierten und warte darauf, dass die Betäubung einsetzt. Bei einer Reportage über Genealogie bleibe ich hängen. Ein Anthropologe aus Deutschland hatte 15 Jahre lang recherchiert, alte Gemeindebücher gewälzt und Friedhöfe besucht, um einen möglichst kompletten Stammbaum seiner Familie zu erstellen. Sogar eine Chromosomen-Bestimmung hatte er durchgeführt, nur um am Ende zu erfahren, dass er selbst überhaupt nicht ins Muster passt. Eine seiner Urgroßmütter muss ihrem Mann also Hörner aufgesetzt haben. Wie enttäuscht der Ahnenforscher wohl sein mag?
Zehn Minuten später zwirbelt das hochfrequente Pfeifen der Fräse durch meine Gehörgänge. Der Sauger schlürft und schlürft und ich fürchte, dass ich bald einen Krampf im Kiefer bekomme, wenn ich nicht bald den Mund für einen Moment schließen darf. Die Zahnärztin kommuniziert leise und ruhig mit ihrer Helferin. Dann endlich die Rettung: Kurze Pause.
Verstohlen taste ich mit der Zungenspitze nach meiner Prämolaren-Ruine. Fühlt sich an wie ein Krater mit einem Durchmesser von drei Kilometern. Wie der Beweis eines interstellaren Einschlags mitten in der Wüste. Waren die Saurier nicht aufgrund eines solchen mächtigen Meteroritentreffers und der damit verbundenen Folgen für die Umwelt ausgestorben? Ich sehe plötzlich große Herden von gigantischen Pflanzenfressern, die sich arglos in meiner Mundflora tummeln. Dann hebt das Leittier den Kopf und schaut zum Himmel. Ein Vollkorn-Keks-Asteroid nähert sich rasend schnell und mit einer langen Feuerschleppe, der Schatten, den er wirft, verdunkelt den Grund, auf dem die Herde steht, und dann kommt der Einschlag. Die Apokalypse. Das Ende einer Lebensform.
„Bitte weit aufmachen.“ Die Fräse läuft an und es geht weiter. Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Meine Gedanken schweifen ab und ich denke an alles mögliche, während sich die Zahnärztin äußerst konzentriert um die Sanierung meines Backenzahns bemüht. Am Kavolux vorbei schaue ich in ihr Gesicht. Ihr Mund wird von einer Gaze-Maske verdeckt, genau wie der der Helferin. Konzentriert schauen ihre ozeanblauen Augen. Im Gegenlicht schimmern feine blonde Härchen auf der Haut über den schön gezeichneten Jochbeinen. Dann schiele ich auf meine Nasenspitze. Im Licht des Kavolux sehe ich kleine Fontänen vom Kühlwasser der Fräse hoch stäuben.
„Jetzt wird es gleich etwas unruhig, ich muss nun die Gratung bearbeiten.“ Die Zahnärztin wechselt das Instrument. Einen Augenblick später dröhnt es durch meinen Schädel, das neue Werkzeug ist etwas grober und ich habe den Eindruck, dass die Vibrationen meine Brillengläser aus der Fassung fallen ließen, würde ich meine Brille auf der Nase haben. So bleibt es bei den dröhnenden Erschütterungen. Mir kommen Bilder aus meiner Kindheit in den Sinn, damals, als ich beim Zahnarzt am Frohnhauser Markt eine ausufernde Kariesbehandlung genießen durfte. Der hatte Linoleum als Fußbodenbelag in der Praxis, einen Kanonenofen im Behandlungszimmer und über dem ollen Ritter-Behandlungsstuhl hing ein Transmissionsriemen getriebener Bohrer, der so langsam lief, dass man die einzelnen Umdrehungen fast mitzählen konnte. Da hatte einem der Kopf auch ganz schön gerappelt.
„Ich muss einen Stift setzen, damit ich die Unterfütterung für die Krone richtig verankern kann.“ Das Dröhnen in meinem Kopf hatte aufgehört. Dafür höre ich nun wieder das leise Turbinengeräusch eines feineren Bohrwerkzeugs und spüre, wie sich ein Fremdkörper in den Kiefer frisst. Ich schließe die Augen und meine Phantasie blendet eine edel anmutende und perfekt gearbeitete Schraube ein, die von einem hochwertigem Spezialwerkzeug unaufhaltsam in einen Knochen gedreht wird. Ich spüre keinen Schmerz. Trotzdem ist das Gefühl unangenehm und meine Vision könnte in der Nacht für Albträume sorgen.
Dann ist es endlich so weit. Die Helferin macht einen Abdruck von meinem Gebiss. Damit der Zahntechniker eine Form für die Krone hat. Endlich kann ich meine Kinnlade ein wenig hin- und herschieben, Kaubewegungen machen, Spitzschnutengesichter. Kein schlürfender Sauger mehr, keine Fräse, kein Schleifer, kein Bohrer. Herrlich.
Ein wenig Zement wird angerührt und eine Aufbaufüllung kommt auf den abgeschliffenen Rest meines Backenzahns. Während die Füllung aushärtet, informiert mich die Zahnärztin über mögliche Komplikationen. Ihre Ausführungen enden mit dem haarsträubenden Begriff „Wurzelbehandlung“. Der Kavolux lacht mich aus. Ich mache eine eindeutige Fingergeste in seine Richtung, worauf er mich misstrauisch beäugt. Trotzdem bin ich guter Dinge und glaube nicht an den Supergau in meinem Kiefer. Wieder wird ein Abdruck genommen, diesmal ist nur der Oberkiefer mit der Aufbaufüllung dran. Die Anpassung des Provisoriums ist nur noch eine Formsache. Einige Tage später wird mir provisorisch die Krone eingesetzt. Dann heißt es abwarten.
Vier Wochen später bin ich wieder entspannt im Behandlungsstuhl und nicke sogar ein bisschen ein, bevor es mit der Behandlung weitergeht. Es hatte keinerlei Komplikationen gegeben, die Wurzelbehandlung fällt aus und der Kavolux schmollt. Ich kümmere mich nicht um ihn.
Weil hier heute so oft vom Zahnarzt die Rede war
Hier könnt Ihr posten was nicht mit dem Thema Racing zusammenhängt
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Bin mal gespannt wann die Geschichte mit dem Darmverschluss kommt



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