mitch_man hat geschrieben:
Es muss doch schon mal irgendjemand mathematisch untersucht haben welche Kräfte in welchem Verhältnis entstehen was sich unterm Strich positiv oder negativ auf die Traktion auswirkt. Überwiegt die gesteigerte Traktion durch den Bremsvorgang am Vorderrad die zusätzliche Beschleunigungsenergie (negative Beschleunigung->Bremsen) die auf das Vorderrad wirkt, heben sich diese Kräfte gegenseitig auf oder übersteigt die zusätzlich erforderliche Energie die zusätzliche Traktion? Wäre als Kurve dargestellt sehr interessant.
Klar wurde das untersucht. Also nicht per se mathematisch, aber wissenschaftlich.
Erstmal musst du natürlich definieren, was du unter Traktion und Beschleunigungsenergie verstehst, sonst hilft dir jedes Resultat nichts.
Für mich bedeutet Traktion nichts anderes als Reibungskoeffizient. Da muss man nicht mit einverstanden sein, aber zu einer vernünftigen Erklärung muss man nunmal irgendwo anfangen. Wenn jemand etwas zusätzliches oder anders darunter versteht, ist das ok, aber hat dann nichts mit folgendem erklärungsversuch zu tun:
Mit meiner Definition kann ich jetzt erstmal arbeiten und mal schauen, was sich alles auf den Reibungskoeffizient und somit die Traktion auswikt und was nicht:
- Gewicht des Fahrzeugs: Nope, wissen wir aus der Schule. Aber mit Vorbehalt, weil mehr Gewicht ja den Reifen mehr deformiert und so die Aufstandsfläche ändert.
- Anpressdruck ("Druck am Vorderrad" durch Bremsen etc.): Nope. Der ändert zwar sehrwohl die maximal übertragbare Kraft, aber nicht den Reibungskoeffizienten. Mit dem gleichen Vorbehalt wie beim Gewicht. Die Krux ist hier folgende: Wenn du bremst, liegt mehr Druck am Vorderrad an, heisst mehr Kraftübertragung ist möglich, soweit richtig. Aber: genau dieses Plus an möglicher Kraftübertragung geht im gleichen Masse gleich wieder flöten, da du effektiv ja genau diese fürs Bremsen benötigst. Der Kammsche Kreis wurde ja schon erwähnt. Für die Schräglage hast du also noch genau gleich viel übrig, also ein Nullsummenspiel. (--> Freue mich schon auf den Aufschrei auf diese Aussage hin).
- Reifenaufstandsfläche: Die Schule sagt nein, die weiterführenden Versuche jein. Bei Reifen ist gibt es tatsächlich kleine Unterschiede. Mehr Aufstandsfläche bedeutet einen höheren Reibungskoeffizienten. Aber in sehr kleinem Mass. Doppelte Aufstandsfläche führt (in dem Bereich, wo ein Auto- oder Motorradreifen belastet wird) zu 2-3% höherem Koeffizienten (wenn ich es richtig in erinnerung habe, jedenfalls vernachlässigbar). Eine Kurve gibt es irgendwo in einer umfassenden wissenschaftlichen Arbeit, die ich aber grad nicht zur Hand habe. Man kann dieses Phänomen natürklich auch dem Anpressdruck zusprechen, das ist in diesem Fall äquivalent.
- Asphaltbeschaffenheit: Jop
- Reifentemperatur: noch klarer. Jeder Reifen hat sein ideales Temperaturfenster für maximale Traktion. In meinen Augen mit der wichtigste weil einflussreichste Faktor. Und zwar meine ich immer die momentane Reifentemperaturverteilung, nicht die die man beim Reinfahren in die Box misst. Zwei Runden bummeln und danach volle Möhre geht bekanntlich selten gut.
- Reifenbeschaffenheit (Gummimischung, Kontur, Luftdruck etc.). Klar, der Reifen soll sich ja im gewünschten Mass verformen um schön auf dem Asphalt zu kleben.
- Schräglage: Klar, siehe Reifenbeschaffenheit, nicht an jeder Stelle des Reifens ist der Reibungskoeffizient gleich gross. Und, der kammsche Kreis ist nicht wirklich ein Kreis, sondern in Wahreit eher undefiniert kartoffelförmig.
- Fahrwerk: nope. Das hilft ja nur, das benötigte Gleichgewicht für den angepeilten Fahrzustand möglichst schnell und dennoch sanft herzustellen. Und damit kommen wir zur grossen Krux:
Alles, was ich jetzt aufgezählt habe, gilt für den statischen Fall. Da ist die ganze Theorie sehr gut bekannt und auch ziemlich gut verständlich. Leider ist Motorradfahren alles andere als statisch. Und die Dynamik zu berücksichtigen ist leider extrem schwer. Darum brauchen ja die Profis das ganze Datalogging und alles. Die machen fortwährend ihre Studien und Auswertungen vor Ort, und lernen so, welche Ursachen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer spezifischen Situation welche Wirkung nach sich ziehen. Meine Kenntnisse hören im statischen, spätestens im quasistatischen Fall auf. Und wie wir aus Erfahrung wissen, verliert man ja meistens das Vorderrad, wenn man weit weg vom statischen Fall ist. Also eben genau beim Lastwechsel, oder auf der Bodenwelle etc. Und ich habe leider noch nie, also wirklich NIE, einen Experten einen dynamischen Vorgang erklären gehört. Die beschreiben immer nur ein paar einfache Zusammenhänge im statischen Fall, und das hauptsächlich für Laien. Und das sogar nicht selten schlicht falsch.
gixxn hat geschrieben:Weil wir grad am Slovakiaring sind.
Eine typische Kurve wo viele übers Vorderrad abschmieren obwohl sie am Gas sind.
Und zwar rede ich von Kurve 6 (vermutlich). Und zwar ist das die Kurve die nach der langen Rechts kommt die zumacht und vor der engen 180° links, also der leichte Linksknick wo man kurz Gas gibt und dann in die Eisen geht.
Sehr heikel dort mit dem Vorderradgrip.
So. Jetzt haben wir eine Beobachtung: Viele Fahrer, also mit unterschiedlichen Motorrädern, unterschiedlichen Fahrstilen, unterschiedlichen Reifen, unterschiedlichen Fahrwerken etc. kriegen beim fahren das gleiche Resultat: Sturz. Ockhams Rasiermesser besagt nun, das der naheliegenste Grund für diese Stürze die fast einzig gemeinsame Komponente ist, die alle teilen, nämlich die Streckenbeschaffenheit. Also schlicht und einfach der Grip, die Traktion, wie immer man es nennen möchte. An dieser Stelle hat es scheinbar weniger Grip als a) an anderen Stellen auf dieser Strecke, und b) an ähnlichen Stellen auf anderen Strecken.
Ob das wirklich wahr ist? wer weiss das schon. Aber die Hinweise sprechen schon eine starke Sprache. Vielleicht machen ja auch alle Fahrer an genau dieser Stelle einfach den gleichen Fahrfehler, mag auch sein. Ist aber unwahrscheinlich. Viel wahscheinlicher ist doch, dass man dort einfach nicht ganz soviel Schräglage haben darf wie man denken würde. Gilt auch für Profis, nur die schaffen es halt durch ihre Fahrtechnik trotz allem deutlich schneller durch die Passage als wir Nasenbohrer. Aber die haben bestimmt nicht mehr Schräglage.
Gibt ja auf fast jeder Strecke die eine oder andere Stelle, die verdächtig viel mehr Stürze zu verbuchen haben als andere Stellen. Auch in der MotoGP. Das ist nicht, weil die Profis zu doof sind, die Kurve richtig zu fahren, sondern weil diese Stellen halt heikel sind, was die Streckenbeschaffenheit angeht und man sich mehr Reserven einrechnen muss, weil der Gripabriss sich nicht so gut ankündigt wie gewohnt.